Abschnitt ErDa-7 - Die volle Herzlichkeit: .

VII. 9. Die Praxis des Herzens .

letzte redaktionelle Änderungen am 5. Januar 2018
Manche Menschen sagen, der Buddhismus sei keine Religion, sondern eine Weisheitslehre, er sei die Lehre der Vernunft. Soweit würde ich nicht gehen, aber es ist richtig, dass die Vernunft eine zentrale Rolle im Buddhismus spielt, was für Religionen eher untypisch ist. Diese Rolle der Vernunft und des scharfen analytischen Verstandes wird in manchen buddhistischen Traditionen durch die Figur des Manjusri dargestellt. Manjusri wird mit dem flammenden Schwert der Transformation dargestellt, wobei das scharfe Schwert die Geisteschärfe symbolisiert; die Flammen der Transformation symbolisieren die läuternde Kraft der Ethik auf dem spirituellen Pfad. Wir haben das Bild Manjusris bei uns in Gelnhausen im Meditationsraum am Obermarkt groß an der Wand abgebildet.
 
Bild von Manjusri
 
Manjusri symbolisiert Weisheit. Wollte man die Lehre des Buddha jedoch auf Weisheit reduzieren, so würde man ihm bitter unrecht tun, denn das wäre nur die halbe Wahrheit. Der Dharma, die Lehre des Buddha, ist auch ein Übungssystem, nämlich das System des Edlen Achtfältigen Pfades, und es beinhaltet nicht nur Verstand und Weisheit, sondern auch positive Emotionen. Das ist der Grund, warum an dieser Wand unseres Meditationsraumes im Zentrum das achtspeichige Rad der Lehre abgebildet ist und links davon Manjusri. Gleichgewichtig auf der anderen Seite, der rechten Seite, ist eine ebenso wichtige Figur abgebildet, nämlich die Grüne Tara. Tara symbolisiert gewissermaßen die emotionale Seite der Lehre des Buddha, symbolisiert Empathie, eine emotionale Qualität, die es uns ermöglicht, uns in andere Wesen einzufühlen, mit ihnen zu fühlen und dadurch zu einem mitfühlenden Handlungsimpuls zu kommen. Tara symbolisiert angewandtes Mitgefühl.

Bild des dharma-cakra

Bild der Grünen Tara

Dies wird ikonografisch unter anderem ausgedrückt durch die Mudra ihrer rechten Hand, das ist die Geste der Freigebigkeit. Tara verkörpert dabei auch die aktiv handelnde Qualität: sie ist die einzige in unserem Meditationsraum abgebildete Figur, die nicht in Meditationshaltung sitzt: ihr rechtes Bein ist abgewinkelt, denn sie ist gerade im Begriff aufzustehen, um denjenigen, die ihrer Hilfe bedürfen, aktiv zu helfen. Und dieses rechte Bein ist auch dadurch fokussiert, dass hier gewissermaßen ein weißes Spotlight darauf gerichtet wird. In der klassischen Ikonografie steht der Fuß auf einer strahlendweißen Blüte. Man kann also einerseits sagen, dass Manjusri für Weisheit steht und Tara für Mitgefühl, man kann es aber auch so verstehen, dass Manjusris Weisheit so etwas wie die theoretische Grundlage ist und Tara die Umsetzung in die handelnde Praxis verdeutlicht.

Allerdings ist das mit der Grundlage und der Ausführung nicht allzu wörtlich zu nehmen. Erinnern wir uns daher daran, was ich in früheren Beiträgen der ErDa-Reihe beschrieben habe. Da war ganz viel über Handeln mit Körper, Rede und Geist die Rede, aber die ersten Pfadglieder des Edlen Achtfältigen Pfades sind samma ditthi (Vollkommene Vision, manchmal auch mit Rechte Erkenntnis übersetzt) und samma sankappa (Vollkommene Emotion, manchmal auch mit Rechte Gesinnung übersetzt).

Beide Aspekte gehören untrennbar zusammen, die rationale und die emotionale Seite von uns. Daher geht es in der Lehre des Buddha darum, unseren Geist zu entwickeln. Das Pali-Wort für Geist ist citta. Citta heißt aber nicht nur Geist, sondern auch Herz. In der Lehre des Buddha geht es also darum, beides zu entwickeln, unseren Geist und unser Herz, Weisheit und Mitgefühl, Ratio und Emotion. Beides ist eng miteinander verwoben. Daher kennt die Sprache Pali nur ein Wort für beides: citta.

Wer einmal einen Arm gebrochen hatte und die täglichen Verrichtungen mit einer Hand machen musste, weiß, wie wichtig es ist, zwei Arme zu besitzen. Wer nur ein Bein hat, ist bei vielen Verrichtungen behindert. Wie viel mehr gilt das, für Bestandteile, die nicht fast identisch sind, sondern sich gegenseitig ergänzen. Ohne Frauen wäre die Menschheit schon längst ausgestorben - ohne Männer übrigens auch. Gäbe es nur Menschen und Tiere, aber keine Pflanzen auf der Welt, so würde Atemluft und Nahrung fehlen. Wir müssen also diese Dualität anerkennen und gleichzeitig sehen, dass in dieser Dualität kein Gegensatz liegt, sondern eine höhere Einheit. Ein Ganzes mit zwei Aspekten.

Wir haben hier also zwei ganz wichtige Aspekte, die einander ergänzen: Rationalität und Emotionalität. Und daher gehört auch zum Dharma, zur Wahrheit, zur Lehre des Buddha, sich beider Seiten bewusst zu sein: links Manjusri, rechts Tara. Das entspricht ziemlich genau dem, was uns ein modernes westliches Erklärungsmodell, das Hemisphärenmodell, lehrt, nämlich dass der Mensch zwei Seiten hat, die den beiden Hirnhälften entsprechen würden. Die linke Hirnhälfte, so sagt dieses Modell, steht für unser waches Bewusstsein, für Rationalität, Analyse, zeitlich lineare und logische Ursache-Wirkungs-Prozesse. Das ist die Manjusri-Seite unseres Hirns, unseres Wissensspeichers. Und so hält auch Manjusri auf der linken Seite unserer Wand das Buch, das Wissenskompendium in der linken Hand.

Und dann haben wir andererseits unsere rechte Hirnhälfte, diese sei eher ganzheitlich orientiert, denkt bildhaft, ist musisch, kreativ, intuitiv, zeitlos, räumlich, emotional und körperorientiert. Das ist Tara, konsequenterweise rechts abgebildet, mit der Geste der Freigebigkeit dargestellt durch die rechte Hand, und der Hilfsbereitschaft, die sich am Aufstehen mit dem rechten Fuß zeigt.

Zugegebenermaßen gab und gibt es auch im Buddhismus Phasen und Richtungen, die eine der beiden Seiten überbetonen. So hat die nüchterne Analyse des sog. Abhidharma in den Mönchsklöstern des Theravada zu einer einseitigen Betonung des intellektuellen Erleuchtungsstrebens geführt. Hier kam das angewandte Mitgefühl zu kurz. Aber glücklicherweise – oder besser gesagt: konsequenterweise – hat es, wann immer eine Seite zu stark betont wurde, eine Gegenbewegung gegeben.

Auch als der Buddhismus vor gut 100 Jahren in den Westen kam, gab es den Ansatz, diese Lehre nur mit der linken, der rationalen Hirnhälfte begreifen zu wollen. Theoretische Überlegungen wurden hoch gehalten, aber wo immer der Buddha über mythologische Wesen sprach, wurde das als schmückendes Beiwerk abgetan. In einer späteren Phase, gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurde der Buddhismus als eine Art New-Age-Bewegung angesehen, es ging weniger um die Entwicklung des Geistes, die Betonung lag nunmehr auf einer esoterischen Wohlfühlbewegung, dementsprechend hoch im Kurs standen irgendwelche aus der tibetischen oder tantrischen Richtung kommende Praktiken, die übernommen wurden, ohne sich ihrer spirituellen Grundlagen bewusst zu sein.

Sangharakshita, der Gründer der Triratna-Bewegung, der ich angehöre, hat selbst jahrelang unter dieser Einseitigkeit gelitten. Er ist einerseits ein scharf analysierender Denker, andererseits ein kreativer, musischer Mensch, einer der Gedichte schreibt. Doch aufgrund seiner Ordination als Theravada-Mönch wurde ihm immer wieder vorgehalten, dass diese emotionale Seite romantische Gefühlsduselei sei, die es zu überwinden gelte. Er selbst beschreibt das so: „Sangharakshita I“ wollte die Schönheit der Natur genießen, Poesie lesen und schreiben, Musik lauschen, Bilder und Skulpturen betrachten, Gefühle erfahren, im Bett liegen und träumen, Reisen unternehmen und Leute treffen. „Sangharakshita II“ wollte die Wahrheit erkennen, philosophische Schriften studieren und verfassen, die ethischen Vorsätze einhalten, früh aufstehen, um zu meditieren, die Fleischeslust abtöten, fasten und beten.

Sangharakshita beschreibt dann, wie sein zweites Ich, der rein rationale Theravada-Mönch, in heftigen Streit mit dem anderen Ich geriet: Verärgert über die Beeinträchtigungen, die er seitens Sangharakshita I erfuhr, der sich mehr denn je mit Poesie beschäftigte und gerade ein langes Gedicht verfasst hatte, das sich zwar mit Buddhismus beschäftigte, aber letzten Endes doch ein Gedicht war, schnappte sich Sangharakshita II die beiden Kladden, in die sein Rivale alle Gedichte geschrieben hatte, und verbrannte sie.

Doch die Geschichte hatte ein Happy-End, denn unser Ordensgründer wurde sich dann der Notwendigkeit beider Seiten bewusst, er fährt in seiner Beschreibung fort: Nach dieser Katastrophe, die für beide ein heilsamer Schock war, begannen sie, die Einflusssphäre des jeweils anderen zu respektieren, mitunter arbeiteten sie sogar zusammen. Und es gab sogar jene seltenen Momente, in denen es – trotz all der Streitereien miteinander – fast so schien, als könnten sie irgendwann die Ehe miteinander eingehen.

Die Triratna-Bewegung, der ich angehöre, ist eindeutig das Kind dieser Ehe, ist das Vermächtnis von Sangharakshita an uns, ein Vermächtnis dieser Selbstbetrachtung, dieses Erkennens der eigenen Person, einer Reflexion, zu der uns der Buddha immer wieder anhält.

Und auch dieser Kurs, das ErDa-Projekt, ist ein Beitrag dazu, unsere beiden Seiten zu entwickeln, die Vernunftseite ebenso wie die emotionale Seite. Daher gibt es ganz viele Aufsätze, in der ich die Vernunftseite betone, aber auch ganz viele Meditationen, die eindeutig auch die emotionale Seite anzusprechen versuchen.


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