Abschnitt ErDa-3 - Die Verbindung mit der Erde aktivieren:

III. 9. DieAtem-Achtsamkeit
oder: „Gib Obacht, Junge.“

letzte Änderungen am 5. April 2016
Es ist gut und wichtig, die Atem-Achtsamkeit zu üben, den Atem zu betrachten.
Manchmal glauben wir allerdings, wir würden diese Praxis beherrschen, sie brächte wirklich nichts Neues mehr, vielleicht erscheint sie uns sogar langweilig oder macht uns schläfrig, weil zu wenig dabei los ist. Dann, liebe Leute, macht ihr irgendetwas, aber nicht wirklich Atem-ACHTSAMKEIT, wobei ich Achtsamkeit fett gedruckt, unterstrichen, mit Großbuchstaben geschrieben meine.

Ich will daher noch einmal diese Praktik erörtern. Lasst uns versuchen, sie tiefer zu verstehen, uns selbst tiefer zu verstehen.

Alle Phänomene in diesem Universum unterliegen sehr ähnlichen Gesetzmäßigkeiten. Die augenscheinlichste davon ist Vergänglichkeit: die Phänomene entstehen, sie nehmen zu, nehmen wieder ab und vergehen. Betrachtet man ein Objekt genau, so betrachtet man das Grundmuster dieses Universums genau. Es gibt eine lange Geschichte, ihr könnt sie auf unseren Internetseiten nachlesen oder anhören, sie heißt „Wunder – und Gott“, in der ein Laienanhänger den Buddha um etwas bittet. In dieser Geschichte taucht ein Mönch auf, der schließlich im Götterhimmel den höchsten Gott sucht und ihm eine Frage stellt, in der es um Unendlichkeit geht, letztlich um das generelle Weltverständnis. Und der höchste Gott verweist dann den Mönch an den Buddha. Dort angekommen fragt dieser Mönch ihn danach, und der Buddha antwortet sinngemäß: „Das Verständnis der Welt und ihre Überwindung kannst du nirgendwo da draußen finden, du kannst es nur in diesem klafterlangen Körper finden.“

Das ist das Ende der Suche nach dem Sinn der Welt. Verstehe, wie das Universum funktioniert, indem du einen Teil verstehst: dich selbst. Und da du selbst noch viel zu komplex bist, nimm etwas weniger Komplexes, einen Teil von dir, deinen Körper. Immer noch zu komplex? Nimm eine körperliche Funktion von dir: Deinen Atem, den hast du immer dabei, der ist immer fühlbar, nimm diesen als Betrachtungsobjekt.

Der Buddha hat berichtet, dass die Meditation, die er unmittelbar vor seinem Erleuchtungserlebnis geübt hat, die Atembetrachtung war, eine etwas ausgefeiltere Variante, als das, was wir hier üben, Atemachtsamkeit in sechzehn Stufen. Aber die Anzahl der Stufen ist nicht das Entscheidende. Traditionell wird den Mönchen in buddhistischen Klöstern sogar empfohlen, nur eine dieser Stufen zu üben, es ist die Betrachtung des Atems an einem Punkt unseres Körpers.

Wobei sich die Frage stellt: Warum üben wir dann eine andere Variante? Nun, die Betrachtung des Atems an nur einem Punkt ist die schwierigste. Einfacher ist es, wenn wir den Atem an wechselnden Stellen betrachten und ihn dort jeweils genauer untersuchen, sich seiner Qualitäten bewusst zu werden. Wie fühlt er sich an? Lang oder kurz? Angenehm oder unangenehm? Tief oder flach? Hastig oder relaxed? Grob oder fein? Wobei nicht wirklich eine Einteilung hinsichtlich dieser Kategorien gemeint ist, sondern ein Verständnis des Gefühls: Wie fühlt er sich wirklich an?

Worum es mir aber eigentlich jetzt geht, ist zu erörtern: wie betrachtet man den Atem, wie genau, wie geht das, auf welche Qualitäten muss ich denn achten? Das ist vielleicht die Frage, die dich möglicherweise immer einmal wieder beschäftigt.

Und da muss ich gleich vor meinen eigenen Aussagen warnen. Wenn ich oben gesagt habe: „Wie fühlt er sich an? Lang oder kurz? Angenehm oder unangenehm? Tief oder flach? Hastig oder relaxed? Grob oder fein?“ dann ist damit eben nicht gemeint, dass du eine Liste von Qualitäten der Reihe nach abarbeiten sollst. Es geht nicht darum, den Atem zu etikettieren, ihn zu katalogisieren, zu beschreiben und die Beschreibung alsdann abzuheften.

Es geht nicht darum zu glauben, du wüsstest jetzt, wie dein Atem funktioniert. Es geht nicht darum, eine Antwort auf alle diese Fragen zu finden. Völlig verfehlt. Das ist das Verfahren der materialistischen Wissenschaft. Alles zu vermessen, zu reglementieren, zu kategorisieren. Im Senckenbergmuseum in Frankfurt, einem sehr großen naturhistorischen Museum, findet sich eine umfangreiche Abteilung mit allen möglichen Arten von Insekten und ihren unterschiedlichsten Varianten, gemessen, analysiert, kategorisiert, auf Nadeln aufgespießt und archiviert. Das ist so unendlich traurig.

Genau das manchen wir, wenn wir unseren Atem in dieser Art analysieren. Er wird genauso tot wie alle diese Insekten. Wir wollen kein Leichenschauhaus des Atems, wir wollen seine wahre, lebendige Natur erleben. Und genau so, wie eine blühende Sommerwiese uns herauslocken kann und uns aller dieser vielfältigen wunderbaren Wesen, all der herrlichen lebendigen Natur, der Tausenden von Insekten, alles dessen, was da kreucht und fleucht frohen Herzens Gewahr werden lässt, wie sie uns die Schönheit einer Sommerwiese wirklich betrachten lässt, so eben sollen wir auch der wahren Lebendigkeit unseres Atems, der Teil der wahren Lebendigkeit von uns selbst ist, Gewahr werden. Und sie nicht einfangen, aufspießen, kategorisieren und mit einem lateinischen Namen versehen.

Also: Suche nicht die Antwort: Wie fühlt sich der Atem an? Sondern lebe die Frage: Wie fühlt sich eigentlich Atem an? Mein Atem! Jetzt! In diesem Moment! Bei diesem Atemzug! Und eben bei diesem meinem jetzigen Gefühlszustand. Wie fühlt er sich an?

Aber reflektiere um Himmels willen jetzt nicht während der Meditation, warum sich dein Atem in bezug auf welches Detail deines Gefühlszustandes jetzt so anfühlt. Nein, betrachte nur! Erobere dir das fragende Staunen eines zweijährigen Kindes zurück, das erstmals eine blühende Sommerwiese betritt, diese Offenheit, diese Rezeptivität.

Letztlich ist das, was wir erreichen wollen, Einsicht. Da steckt das Wort Sicht drin. Wir wollen sehen, nicht etikettieren, nicht kategorisieren. Etikette drauf kleben und abstempeln ist etwas für Bürokraten, nichts für Weise. Einsicht in die Natur der Dinge, Einsicht in ein vermeintlich so einfaches Betrachtungsobjekt wie unser Atem, bedeutet letztendlich zu sehen, wie der Atem ist, zu sehen, wie die Dinge sind. Das ist yathabhuta-nana-dassana (die erste Stufe tiefer Einsicht in die Natur der Dinge). Das Gegenteil davon ist avijja, ist Verblendung, ist das, was uns im Hamsterrad des samsara (dieser unvollkommenen Betrachtungsweise der Welt) gefangen hält.

Verblendung ist zu glauben, du wüsstest schon, wie sich der nächste Atemzug anfühlt. Verblendung kommt von blind sein. Du bist dann blind für das Gefühl deines nächsten Atemzuges. Und wenn es dir schon nicht gelingt, Verblendung bei etwas so scheinbar Unbedeutendem wie einem einzigen Atemzug zu überwinden, wie willst du dann jemals deine Verblendung bezüglich komplexerer Phänomene überwinden, wie willst du dann jemals umfassende Einsicht erreichen?

Es geht darum zu fühlen, wie sich Atem anfühlt, du arbeitest damit an deinem Einfühlungsvermögen. Meine liebe Großmutter war keine studierte Psychologin, sie hatte nur eine einfache zweiklassige Volksschule im 19. Jahrhundert besucht. Aber sie hat mehr von der Psyche des Menschen verstanden als eine ganze Klinik von Psychiatern heute. Weil sie hingesehen hat.

„Junge, du musst genau hingucken“, hat sie mich ermahnt. „Gib doch Obacht, Junge“, pflegte sie mich zur Achtsamkeit anzuhalten. „Hast du mich nicht gehört?“ frug sie scheinheilig, wenn ich wieder irgendeinen ihrer guten Ratschläge „überhört“ hatte. Meine liebe Großmutter war keine Buddhistin, aber sie war vielleicht achtsamer als manches ganze buddhistische Kloster zusammen.

„Komm und sieh“ waren die Worte, mit denen der Buddha, Menschen einlud, seine Lehre auszuprobieren. Er sagte nicht: Sitz nieder und analysiere!“ auch wenn das in manchen Theravada-Kreisen leider so verstanden wird.

Er sagte übrigens auch nicht: „Stell dich hin und beschreibe!“ Was auf ein weiteres Problem aufmerksam macht. Wenn ich oben gesagt habe: „Wie fühlt er sich an? Lang oder kurz? Angenehm oder unangenehm? Tief oder flach? Hastig oder relaxed? Grob oder fein?“ so ist das der äußerst suboptimale Versuch, eine Empfindung in Worte zu fassen, sprachlich zu erfassen.

Aber mit der Sprache ist das so wie mit allem, sie hat einen adinava- und einen assada-Aspekt. Der assada-Aspekt ist das Reizvolle, das Interessante, das Nützliche an einer Sache: Sprache ermöglicht eine Ebene von Kommunikation, die ohne sie nicht möglich wäre. Mit unserer recht ausgefeilten Sprache unterscheiden wir Menschen uns, so weit wir das wissen, von den Tieren. Ich benutze hier die ganze Zeit (Schrift-)Sprache, um zu versuchen, etwas aus meinem Geist in euren Geist kommen zu lassen. Sprache ist eine großartige Erfindung, sie hat ihren assada-Aspekt.

Andererseits – mit jedem sprachlichen Begriff, den ich hier verwende, enge ich ein. Worte haben Definitionen, Begrenzungen. Die Wirklichkeit funktioniert aber so nicht, genau sowenig wie ein wunderbarer Hirschkäfer in einem lebendigen Mischwald seinem toten aufgespießten Ebenbild im Senckenberg-Museum gleicht, so wenig gleicht eine Empfindung des Atems dem Etikett „dieser Atemzug ist grob“. Daher: versucht nicht euren Atem zu Tode zu analysieren, sondern öffnet euch der phantastischen Vielfalt des Atems. Und wenn ihr diese phantastische Vielfalt nicht erkennen könnt, ist das vielleicht so, wie wenn ein Ufo über den Planeten Erde fliegt und ein Außerirdischer zum ersten Male eine Sommerwiese sieht: er wird sie nicht empfinden. Geh näher dran! Guck genauer hin!, nimm den Rat meiner lieben Großmutter an alle Außerirdischen an: „Junge, du musst genau hingucken!“ oder: „Gib doch Obacht, Mädel!“

Wir müssen unseren Atem vollen Herzens nicht nur betrachten, sondern auch empfinden. Mit dem citta. Das schöne Pali-Wort citta bedeutet nämlich Herz und Geist – beides im poetischen Sinn. Beachtet bitte: citta heißt nicht etwa „Hirn und Pumpe“, das wäre westlich-materialistischer Senckenbergianismus, citta heißt „Herz“, citta heißt „Geist“ .

Und wenn du dich wieder anschickst, die Vergegenwärtigung des Atems zu üben, dann stellen dir den Buddha mit seiner freundlichen Einladung vor: „Komm und sieh“ - oder wahlweise meine liebe Großmutter: „Gib Obacht, Junge!“



Wenn du jetzt noch etwas Zeit hast, kannst du die oben erwähnte Geschichte Wunder – und Gott lesen,

oder du nimmst dir unser Merkblatt über die Atembetrachtung vor.



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