Abschnitt ErDa-8 des ErDa-Projektes:
VIII. 4. Anfängergeist .
letzte Änderungen am 6. Januar 2018
Den Begriff Anfängergeist verdanken wir der japanischen buddhistischen Richtung des Zen. Man sagt mitunter auch: Zen-Geist – Anfänger-Geist. Und das ist keineswegs abwertend gemeint. Es ist vielmehr ein Ziel, sich den Anfängergeist – das japanische Wort dafür ist shoshin – zu bewahren. Was ist damit gemeint?

Wenn Menschen zum ersten Mal zu Meditation am Obermarkt kommen, dann haben sie Anfängergeist. Viele Leute, die das erste Mal hier auftauchen, haben vorher entweder noch gar nicht meditiert oder nur irgendwo einmal hereingeschnuppert.

Und dann kommen sie erstmals hierher und wir zeigen ihnen, wie wir die Vergegenwärtigungen des Atems in vier Stufen üben. Und wenn sie eine Woche später wiederkommen, bringen wir ihnen bei, wie man die metta bhavana, die Meditation zur Öffnung des Herzens, zur Entfaltung positiver Emotion, übt. Und da das neu für sie ist, gehen sie mit Anfängergeist daran, mit Neugier, sie wollen etwas Neues entdecken, etwas Neues ausprobieren, unverbildet, vorurteilsfrei, offen. Aber wenn sie dann viele Wochen, monatelang, vielleicht jahrelang hierherkommen, dann geht der Anfängergeist verloren.

Wenn ein Kind das erste Mal etwas bewusst sieht, sagen wir, wie es schneit, dann ist es von diesem Erlebnis fasziniert. Es möchte unbedingt hinaus in den Schnee. Vielleicht stellt es nach einer halben Stunde weinend fest, dass seine Händchen eiskalt sind, vielleicht lernt es die Freuden des Schneemannbauens oder des Auf-Dem-Schlitten-Gezogen-Werdens kennen, auf jeden Fall ist es ein tolles, überraschendes, faszinierendes, prickelnd neues Erlebnis.

Wenn wir Erwachsenen hingegen aus dem Fenster blicken und Schneefall sehen, dann stellt sich diese Faszination häufig nicht mehr ein. Vielleicht denken wir nur: „Morgen auf der Fahrt zur Arbeit wird es verdammt glatt sein!“ Der Anfängergeist ist verloren gegangen, wir glauben zu wissen, was das Auftauchen von Schnee impliziert.

Wenn ein Kind zum ersten Mal Weihnachten erlebt, die Faszination des Mysteriums Christkind, das ungewohnte Auftreten eines festlich geschmückten Weihnachtsbaumes, viele Süßigkeiten, ein weihnachtliches Festessen und dann die Geschenke, dann bekommt es ganz große Augen, dann springt das Herz vor Freude schier über, so faszinierend neu und wunderbar ist das alles. Dreißig Jahre später, dreißig Weihnachten später, ist Weihnachten vielleicht nur noch Stress: Geschenke kaufen, Essen vorbereiten, einen Weihnachtsbaum kaufen, die Wohnung aufräumen, Schwiegereltern besuchen – Weihnachten ist kein Faszinosum mehr, sondern für viele Menschen das stressigste Ereignis des Jahres. Und die Suizidrate liegt zu keiner Zeit des Jahres so hoch wie zu Weihnachten. Ent-Täuschung, Alleinsein, Verlust von Bindungen wird an Weihnachten viel stärker empfunden, und all das kontrastiert mit den vielen Hoffnungen, die wir als Kind auf diesen Termin gesetzt hatten. Der Anfängergeist ist verloren gegangen. Wir hatten Erwartungen, Wünsche, Projektionen – und wir werden enttäuscht, frustriert.

Und ganz ähnlich ist es auch mit der Meditation. Wir sind, wenn wir uns das erste Mal zur Meditation aufs Kissen setzen, gespannt, was diese unbekannte neue Erfahrung für uns bereithält. Wir sind achtsam, gespannt, offen: Anfängergeist. Aber nach Monaten, nach vielen, vielen Meditationssitzungen bemächtigt sich uns der Eindruck zu wissen, was jetzt gleich passiert. Wir erwarten unsere alten Bekannten, die fünf Gruppen von Hindernissen. Wir erinnern uns daran, wie oft wir schon nicht richtig mit ihnen gearbeitet haben, sondern uns von ihnen haben treiben lassen, vor ihnen kapituliert haben. Oh nein, schon wieder Vergegenwärtigungen des Atems, oder: Schreck-lass-nach, wenn ich gewusst hätte, dass der Horst heute wieder die metta bhavana ansagt, wäre ich nicht gekommen.

Was ist passiert? Wir haben den Anfängergeist verloren. Wir glauben zu wissen, was passiert. Und genau das passiert dann natürlich auch. Wir basteln an einer self-fulfilling prophecy, an einer Erwartungshaltung, die gerade aufgrund dieser Erwartung zwangsläufig auch wirklich eintritt. Und so verhindern wir zielsicher einen Meditationserfolg. Glaubt mir, ich weiß wovon ich rede. Ich habe diesen Fehler jahrelang gemacht. Seit ich jedoch weiß, was Anfängergeist ist, mache ich diesen Fehler - - - - sagen wir: deutlich seltener.

Bei der Buddhistischen Gemeinschaft Triratna, haben wir zwei Hauptpraktiken: die Meditation der Vergegenwärtigungen des Atems, also eine Achtsamkeitspraxis und die metta bhavana, also die Entfaltung von Liebe und Güte. So ist das bei Triratna. Betrachten wir jetzt abwechslungsweise einmal eine andere, eine ebenso junge westliche buddhistische Richtung, die in der Tradition des Zen steht, nämlich den Zen-Peacemaker-Orden. Dort gibt es drei Grundsätze, der zweite ist Gewahrsein, der dritte Liebende Aktion. Das entspricht genau unseren beiden Hauptpraktiken, der Atemachtsamkeit und der metta bhavana. Aber an erster Stelle steht im Zen-Peacemaker-Orden noch ein anderer Grundsatz. Wenn die Menschen diesen hören, sind sie gewöhnlich ziemlich irritiert. Der erste Grundsatz des Zen-Peacemaker-Ordens ist nämlich: - - - Nichtwissen.

Und damit ich nicht in den Verdacht komme über eine andere buddhistische Richtung etwas Ungenaues, etwas Entstellendes zu sagen, möchte ich an dieser Stelle den Gründer des Zen-Peacemaker Ordens, den früheren Nasa-Manager und jetzigen Zen-Priester Bernie Glassman Roshi zitieren. Glassman erläutert Nichtwissen so:

Sobald wir über etwas Bescheid zu wissen glauben, machen wir dadurch einen anderen Verlauf der Dinge unmöglich. Sobald wir nicht mehr aus dem Nichtwissen heraus leben, fixieren wir unsere Situation so, dass wir das unablässige In-Erscheinung-Treten der Dinge und Ereignisse nicht mehr zu erleben vermögen. Die Dinge geschehen aber und nichts bleibt so, wie es ist. Indem wir jedoch Vorstellungen darüber hegen, was unserer Meinung nach geschehen sollte, hindern wir uns daran zu sehen, was tatsächlich geschieht. Uns entrüstet, wenn unsere Erwartungen sich nicht erfüllen. Gelingt es uns hingegen, sie loszulassen, befinden wir uns im Einklang mit dem, was in Erscheinung tritt.

Und genau das, was Glassman da als Nichtwissen beschreibt, ist das, was im Zen als Anfängergeist gepriesen wird. Oder um eine andere japanische bildnerische Darstellung zu verwenden: sei wie eine leere Teetasse. In eine volle Tasse, kann man keinen Tee einfüllen, das geht nur in eine leere Tasse. Wenn du also etwas lernen willst, wenn du etwas einüben willst, wenn du weiterkommen, dich entwickeln willst, dann sei nicht wie eine volle Tasse, sondern wie eine leere Tasse, voller Erwartung dessen, was da kommt, und dann nimm den Tee auf – vorurteilsfrei, lass den Geschmack sich frei entfalten und achte auf diesen. Jeder Tee ist anders, es gibt so viele Geschmacksrichtungen sei offen, für das Neue!

Dummerweise ziehen viele Menschen bei der Meditation hieraus falsche Schlüsse. Sie stellen fest, dass ihnen unsere beiden Meditationstechniken nach einiger Zeit langweilig vorkommen, also wollen sie andere Meditationen, vielleicht solche mit Musik, oder mit Mantras, vielleicht auch Visualisierungstechniken. So gehen sie von einer Meditationsgruppe zur nächsten Meditationsgruppe weiter und kommen niemals wirklich tief. Denn immer dann, wenn das oberflächlich Neue bekannt ist, wenn sie sich darauf besinnen könnten, mehr in die Tiefe zu gehen, verschwinden sie, um etwas anderes auszuprobieren. So laufen sie vor ihrer Chance auf Erfolg in der Meditation zielstrebig davon.

Und daher plädiere ich eindringlich dafür, tatsächlich bei unseren beiden Meditationstechniken zu bleiben, und sie immer neu zu erleben, mit Anfängergeist, wie es Bernie Glassman nennt: mit Nichtwissen. – Oder, um ein Wort des Ordensgründers der buddhistischen Bewegung, der ich angehöre, von Triratna, zu verwenden: Immer mehr von immer weniger.

Das bedeutet eben nicht heute dies und morgen jenes auszuprobieren, sondern sich auf wenigen Praktiken zu beschränken, diese aber immer tiefer zu erforschen, auszukosten, auszuloten, und das geht nur, wenn wir uns den Anfängergeist erhalten. Dazu fällt mir ein Spruch des bekannten Zen-Meisters Shunryu Suzuki ein: Im Anfängergeist gibt es viele Möglichkeiten, im Geist des Experten nur wenige.

Wenn Du also glaubst, du wüsstest, wie die metta bhavana geht, was du darin mit deinem Geist zu tun hast, dann spielst du dich als Experten auf. Und genau dadurch verbaust du dir die Möglichkeiten, wirklich Neues auszuprobieren, dich für neue Erfahrungen zu öffnen, dich zu entwickeln, dich spirituell zu entfalten, voran zukommen auf dem Pfad zur Freiheit.

Und nun, zum Schluss, möchte ich noch einmal den Zen-Meister Suzuki zitieren:

Im Anfänger-Geist gibt es keinen Gedanken: „Ich habe etwas erreicht." Wenn wir nicht daran denken, etwas zu erreichen, nicht an uns selbst denken, sind wir wahre Anfänger. Dann können wir wirklich etwas lernen. Der Geist des Anfängers ist der Geist des Mitgefühls. Wenn unser Geist mitfühlend ist, ist er grenzenlos. Dogen (ein japanische Zenmeister) betonte immer, wie wichtig es ist, unseren ursprünglichen, grenzenlosen Geist wieder zu gewinnen. Dann sind wir zu uns selbst immer wahrhaftig, dann fühlen wir mit allen Wesen und können wirklich praktizieren.

Das ist also das Schwierigste, immer den Anfänger-Geist beizubehalten. Er ist das Geheimnis der Zen-Praxis.

Soweit Suzuki. Mir bleibt nur anzumerken: das ist in der Tat der Schlüssel zum Erfolg. Mach dir diese Erkenntnis zueigen und – sobald du sie beherrschst – stehen dir die Tore zu ungeahnten meditativen Erfolgen offen.

Dranbleiben. Mit Anfängergeist. Dem Schlüssel zum Erfolg.


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