Abschnitt ErDa-10 des ErDa-Projektes:
X.3. - Die
Grüne Tara
Vortrag von Horst Gunkel bei Meditation am
Obermarkt, Gelnhausen (2012)
letzte Änderungen am 6. Januar 2018
„Vor
vielen Äonen lebte die Prinzessin Yeshe Dawa in einem weit
entfernte
Universum“, so beginnt der Mythos von der Grünen Tara – oder
besser: einer der Mythen von der Grünen Tara. Offensichtlich
handelt
es sich bei Tara – genau wie bei den anderen Bodhisattvas – nicht
um eine historische, sondern um eine mythologische Figur. Und
sinnvoller Weise versucht der Wortlaut des Mythos auch gar nicht
daraus ein Geheimnis zu machen.
Es mag Kindmenschen geben, die dennoch glauben, dass all das, wovon der Mythos berichtet, einer Prinzessin Yeshe Dawa in uralter Zeit in einer fernen Galaxis passierte. Das ist in Ordnung. Diese Kindmenschen könnten an viel schädlichere Mythen glauben. Aber ich denke, wir können uns darüber einig sein, dass es sich nicht um eine historische Wahrheit, sondern um einen Mythos handelt, und zwar um einen äußerst hilfreichen Mythos, denn es geht darum, dass sich die Hörer/innen dieses Mythos mit der Figur der Grünen Tara, die für angewandtes Mitgefühl steht, identifizieren und die Eigenschaften und Qualitäten, wofür sie steht, bei sich selbst kultivieren.
Die Prinzessin entschied sich natürlich – wie der historische Buddha – dass ihr Reichtum nichts bedeute und widmete sich dem, den Wesen zu helfen und insbesondere, ihnen den Dharma zu geben. Daraufhin legten ihr religiöse Autoritäten nahe, sie möge dafür beten, künftig als Mann wiedergeboren zu werden, dann könnte sie als Buddha die Welt beglücken. Doch Tara widersprach: „Nein, es gibt bereits zahlreiche männliche Buddhas, die den Menschen in vielen Welten ein Vorbild sind. Es ist wichtig, das Selbstbild der Frauen dadurch zu stärken, dass ich in weiblicher Form wiederkehre, zur Buddha werde und ihnen so ein Beispiel gebe.“
Und tatsächlich, obwohl Buddhaschaft nicht an ein Geschlecht gebunden ist, obwohl Buddhaschaft ja gerade alle Dualitäten überwindet, scheint es für viele Menschen wichtig zu sein, auch weibliche Figuren zu haben, die die höchsten Ideale des Buddhismus verkörpern.
In unserem Meditationsraum am Obermarkt haben wir die beiden Hauptaspekte von Buddhaschaft, nämlich Weisheit und Mitgefühl, dargestellt durch Manjusri mit dem flammenden Schwert der Weisheit bzw. durch die für Mitgefühl stehende Grüne Tara. Ich hätte hier auch zwei andere Figuren hinmalen können, den männlichen Bodhisattva Avalokitesvara, der für Mitgefühl steht, und die weibliche Bodhisattva Prajnaparamita, die vollendete Weisheit verkörpert. Offensichtlich soll durch diese unterschiedliche Belegung ausgedrückt werden, dass weder Mitgefühl noch Weisheit eine besonders männliche oder weibliche Eigenschaft sind.
Taras
grüne Farbe symbolisiert Handlung und Erfolg und hat auch einen
Bezug zum Luftelement. So wie das Luftelement die grünen Pflanzen
wachsen lässt, was nach dem kalten, dunklen Winter wieder
Frühlingsgefühle aufsteigen lässt, so bringt auch Tara
mittels
ihrer erleuchteten Eigenschaften Frische in unser Leben und hilft uns
dabei, uns von der Schwere des Hamsterrades von Samsara zu lösen.
Und so wie jeder Hobbygärtner seine Freude hat, wenn saftige grüne Pflanzen emporragen, ebenso steht auch Taras grüne Farbe für Erfolg, für Entwicklung, für Wachstum, Freude, Hoffnung, Optimismus.
Dabei hat Tara – wie alle Bodhisattvas einen semi-transparenten Lichtkörper, wunderschön, doch unfassbar, wie ein Regenbogen, eine Fata Morgana oder das Gespinst einer Illusion.
Während alle anderen Figuren, die in unserem Meditationsraum abgebildet sind, mit verschränkten Beinen in Meditationshaltung sitzen, ist Taras rechtes Bein abgewinkelt, ein Spotlight beleuchtet ihren rechten Fuß als das entscheidende Detail ihres Körpers: sie ist bereit, sich in jedem Moment zu erheben und auf die Wesen zuzugehen, die ihrer Hilfe bedürfen, sei es in praktischen oder in dharmischen Angelegenheiten. Das korrespondiert mit der Haltung ihrer rechten Hand, mit der sie die Geste der Freigebigkeit zeigt; sie bietet damit allen Wesen das an, dessen diese bedürfen, sei es Besitz, Liebe, Schutz oder den Dharma. Die gleiche Handhaltung finden wir übrigens in diesem Raum noch einmal, nämlich bei Ratnasambhava.
Taras
linke Hand ist in der Mudra der Drei Juwelen dargestellt. Daumen und
Ringfinger berühren sich, was die Einheit von Weisheit und
Mitgefühl
symbolisiert, während die anderen drei Finger gerade aufgerichtet
sind – die Triratna-Mudra, die die Zufluchtnahme zu Buddha, Dharma
und Sangha bezeichnet. In beiden Händen hält Tara
Stängel der
Utpalablume, des blauen Lotus. Häufig finden wir daran verschieden
weit geöffnete Lotusse, wobei die Knospe die Buddhas der Zukunft
symbolisiert, die anderen die Buddhas von Vergangenheit und
Gegenwart.
Bild der Tara im
Meditationsraum am Obermarkt, Gelnhausen
Es fällt außerdem auf, dass Tara mit einem dem damaligen Schönheitsideal entsprechenden vollkommenen Körper als sechszehnjährige Frau dargestellt wird, hier steht die körperliche Vollkommenheit stellvertretend für die spirituelle Vollkommenheit. Tara ist mit schönem Schmuck behängt, aber ihr wahrer Schmuck sind natürlich ihre inneren Werte – Ruhe, Gelassenheit, Freundlichkeit, Mitgefühl, Mitfreude, Weisheit. Die sichtbaren Schmuckstücke stehen für ihre spirituellen Vollkommenheiten, ihre paramitas, nämlich dana (Gebefreude), sila (Ethik), viriya (Tatkraft), kshanti (Geduld), samadhi (Konzentration) und prajna (weisheit).
Was wir in diesem Bild nicht sehen können, ist ein akustisches Phänomen, Tara ist mit drei Silben geschmückt, die Silben die wir heute hier schon rezitiert haben, nämlich bei der Schreinbegrüßung: OM – AH – HUM. OM erklingt an ihrem Kronen-Chakra, AH am Kehl-Chakra und HUM am Herz-Chakra. Diese Silben stehen für richtiges Handeln auf der Ebene des Geistes, der Ebene der Sprache und der Ebene des Handelns. Wir können das bei der Schreinbegrüßung nachvollziehen, indem wir bei den entsprechenden Silben diese Chakras mit den gefalteten Händen berühren – an unseren eigenen Körper natürlich.
Das,
was ich eben zur Beschreibung der Abbildung der Tara gesagt habe,
gilt übrigens für alle Bodhisattvas: sie werden immer in
einer ganz
bestimmten Art dargestellt, damit diese Symbolik in jeder ihrer
Darstellungen enthalten ist. Natürlich steht jeder/jede
Bodhisattva
für alle erleuchteten Qualitäten, jedoch ist bei jeder dieser
Figuren ein ganz besonderer Aspekt betont, bei Tara eben aktives,
praktisch angewandtes Mitgefühl. Neben der Grünen Tara gibt
es
übrigens noch zwanzig weitere Tarafiguren, allerdings ist die
Grüne
Tara die mit Abstand beliebteste.