Abschnitt ErDa-5 - Sinnlichkeit und Sakrament:

V. 1. Das unmittelbare, erfahrene Wissen .

letzte kleine Änderung am 6. Januar 2018
Unsere Kultur ist seit der Steinzeit eine sprachliche Kultur. Sprache presst Erfahrenes in bestimmte sprachlich-phonetische Muster, die der Kommunikation mit anderen Menschen dienen, was sehr nützlich ist. Oder doch relativ nützlich. Es heißt, dass noch immer etwa 90 % unserer Kommunikation nonverbal erfolgt, durch Blicke, durch Intonation, durch Körpersprache. Seit mehreren Jahrhunderten, in besonders gebildeten Kreisen seit wenigen Jahrtausenden, ist Sprache noch weiter erstarrt, zu Schriftsprache, hier fehlt sogar noch die Möglichkeit der Intonation. Seit einigen Jahrzehnten kommunizieren wir häufig schriftlich über Computer und andere Geräte unserer modernen Informationstechnologie.
 
Unsere Erfahrung ist aber ursprünglich, sie ist nicht verbal. Eine beliebte Frage bei der medizinischen Versorgung ist: „Wie äußert sich der Schmerz, welcher Art ist der Schmerz?“ Dies bringt uns in ein Dilemma. Wir empfinden zwar den Schmerz, müssen ihn aber in einer Art beschreiben, dass sie einem Dritten, beispielsweise dem Arzt, verständlich ist. Schon die Beschreibung des Schmerzes als „sehr heftig“ ist von unserer subjektiven Erfahrung mit Schmerzen geprägt. Für den einen kann es ein „heftiger“ Schmerz sein, wenn er sich beeinträchtigt fühlt, also wenn der Schmerz dauerhaft bemerkbar ist. Für die andere – schmerzerfahrene Person – würde ein sehr heftiger Schmerz erst der sein, bei dem man lieber tot als lebendig wäre, ein Schmerz, der so heftig ist, dass nicht nur alles Denken erlahmt, sondern dass man sich sogar vor Kopfschmerzen erbrechen muss. Der Arzt, der mit sehr vielen Patienten konfrontiert ist, die schon mit kleinsten Wehwehchen kommen, wird vielleicht schon entsprechende Abstriche machen, wenn jemand von „heftigem Schmerz“ spricht und nicht zum Beispiel von „unerträglichem Schmerz“ oder von „mörderischem Schmerz“.
 
Auch die Beschreibung des Schmerzes in stechend, ziehend, drückend, pulsierend, so hilfreich sie ist, führt in unserer verbegrifflichten Welt dazu, dass beim Hörer bestimmte Raster aktiviert werden. So ist möglicherweise die Beschreibung eines Schmerzes als „pulsierend“ Anlass dafür, dass der Arzt bestimmte Krankheitsbilder für wahrscheinlich hält, andere ausschließt.

So hilfreich unser verbegrifflichtes, verbales Denken ist, so weit ist es doch von unserer unmittelbaren Erfahrung entfernt. Mitunter sind wir derart überfordert, wenn wir eine Empfindung verbalisieren sollen, dass wir zu inhaltlich unsinnigen Formulierungen greifen, um zu versuchen, unsere Empfindungen auch nur annäherungsweise auszudrücken (z. B.: „Mir geht es ja so was von scheiße!“).

Die häufigste Ursache, warum erfahrene Meditationsmeister Schüler ablehnen, ist, weil sie diese für eine „volle Tasse“ halten. So wie man in eine volle Tasse keinen Tee mehr eingießen kann, so wenig sind diese Personen empfänglich für die Sprache ihres Lehrers, weil sie voller Datenmüll sind. Vielleicht geht es dir auch so, wenn du eine Menge über Meditation oder über Buddhismus gelesen hast: Alles ist irgendwie verwirrend. Und dann noch die Frage: „War das eine meditative Vertiefung? War da zuvor das in der Literatur beschriebene kurze Aufblitzen? Hat es ein Gegenbild gegeben?“ All dies zeigt, dass sprachliche Information mitunter mehr verwirren kann, als sie hilft. Möglicherweise geht dir das sogar mit dem so, was du in diesem Moment liest.

Das Entscheidende ist: Betrachte deine Erfahrung, betrachte deine Empfindungen. Und wenn ich sage "betrachte sie", dann meine ich definitiv nicht „beschreibe sie“ auch nicht „benenne“ sie, denn das wäre bereits der verhängnisvolle Schritt von der Erfahrung zur sprachlichen, zur begrifflichen Erstarrung.

Es kommt also beim wahren Erleben darauf an, ganz in der Empfindung zu bleiben, sie auszukosten, alle ihre Dimensionen feinfühlig zu würdigen, anstatt sie begrifflich zu vergewaltigen. Das gilt insbesondere bei unserer Meditation. Meditieren ist Beobachten. Achtsamkeit heißt, das Phänomen auszuloten, statt es zu kategorisieren.

Der Zen-Peacemaker-Orden hat drei Grundregeln. Eine davon, die für die meisten Menschen erst einmal völlig verwirrend ist, heißt: „Nicht-Wissen!“ Damit ist genau das gemeint, was ich hier zu beschreiben versucht habe. Betrachte deine Erfahrung ohne gleich ein begriffliches Konstrukt darüber zu stülpen.

Mit unserem Körper empfinden wir etwas. Das ist eine Erfahrung, und die sollten wir annehmen. Wenn wir sie aus irgendeinem Grunde sofort zurückweisen – also verdrängen – dann schaffen wir sie damit nicht ab, dann sinkt sie lediglich in tiefere Schichten unseres Bewusstseins ab und führt dort ein Eigenleben, das unserer Wahrnehmung nicht zugänglich ist – eben weil sie verdrängt ist. Alles Verdrängte sucht sich aber früher oder später einen Weg an die Oberfläche – und um nicht wieder sofort zurückgewiesen zu werden, tarnt es sich. Dann aber erkennen wir es nicht, dann stehen wir nur einem nicht einschätzbaren Phänomen gegenüber. Dann haben wir uns wirklich ein Problem geschaffen.

Hier liegt eine ganz wichtige Ursache des Phänomens, das der Buddha als eines der drei Hauptübel bezeichnet hat: moha (Unwissenheit, Verblendung). Also: abstempeln, wegstecken, verdrängen führt nicht etwa zu Weisheit, sondern zu (spiritueller) Unwissenheit, zu Nicht-Wissen-Wollen. Dieses Nicht-Wissen-Wollen ist der Zustand einer vollen Tasse. Einfaches Nicht-Wissen hingegen ist der Zustand einer leeren Tasse: Offenheit.

Und wenn ich das eben Geschriebene zu Beginn gerade des Abschnittes „Sinnlichkeit und Sakrament“ beschreibe, so dann, weil es darum geht, ein Phänomen sinnlich zu erfahren, und hier meine ich sinnlich im Sinne von sehen, von hören, von riechen, von schmecken und ganz besonders von fühlen, von empfinden – und ich meine es definitiv nicht im Sinne von: mit dem Denken erfassen und kategorisieren. Wenn wir das Phänomen also tatsächlich sinnlich erfahren, öffnen wir uns wirklich unserem Sinnenempfinden, dann - und nur dann - öffnen wir uns wahrer Sinnlichkeit – und machen aus unserer Betrachtung ein Sakrament, eine heilige Handlung.


Zurück zum Kurs ErDa geht es hier
Zur Übersicht Sinnlichkeit und Sakrament