Das Luftelement
letzte Änderungen: 2015-05-28
Vortrag von Horst Gunkel aus der Reihe „Erdverbundene, körperbetonte Meditation“


Mein Vortrag "Das Luftelement" gehört zu meiner Reihe ErDa – erdgestützte Dankbarkeit oder auch erdverbundene Dankbarkeit. In dieser Reihe habe ich im März bereits über das Thema „Baum“ gesprochen und im April über das Thema „Erde“.

Mein heutiges Thema ist Luft. Ich möchte aber nicht über die Bestandteile der Luft - also der Atmosphäre - sprechen, obwohl dies in unserer Zeit auch ein dankbares Thema wäre, denn die vom Menschen verursachten Veränderungen in der Luftchemie sind ja das vielleicht größte Thema des gerade angebrochenen dritten Jahrtausend unserer Zeitrechnung, nämlich des Klimawandels und damit der Gefährdung des Lebens auf diesem Planeten.

Vielleicht ist schon der Begriff „Luftelement“ etwas gewöhnungsbedürftig, denn wenn wir in unserem durch Schulwissen verbildeten Geist nachsinnen. so denken wir bei "Elemente" inzwischen fast automatisch an das Periodensystem der Elemente aus dem Chemieunterricht, also an eine Systematik von Atomen. Hier ist aber nicht in erster Linie das, was für uns Menschen an der Luft am wichtigsten ist, also das Sauerstoffatom gedacht oder genauer an den molekularen Sauerstoff O2, obwohl auch das in meinem Vortrag eine Rolle spielen wird.

Wenn wir im Buddhismus und in anderen spirituellen Traditionen vom Luftelement sprechen, dann ist eines der vier großen Elemente gemeint, die die alten naturverbundenen Völker verehrten, nämlich Erdelement, Wasserelement, Luftelement und Feuerelement. In unserem Kulturraum, in Europa, haben die Griechen im 6. und 5. Jhd. vor unserer Zeitrechnung die Vier-Elemente-Lehre ausformuliert, hier sind insbesondere zu nennen Thales von Milet – den wir aus dem Schulunterricht kennen, das ist der mit dem Thaleskreis – weiterhin Anaximedes und schließlich Heraklit von Ephesus, der vor allem durch den Satz "panta rhei" – alles fließt – bekannt wurde, mit der er die Vergänglichkeit beschrieb. Er wurde übrigens dafür vom Buddha kritisiert, denn der Buddha fand es ziemlich enttäuschend, dass Heraklit aus dieser Erkenntnis keine Handlungsanweisungen ableitete. Heraklit war eben Theoretiker, während der Buddha Praktiker war. Man kann daran übrigens auch erkennen, dass es damals schon Ansätze einer Globalisierung gab, zumindest im Bereich der Geisteswissenschaften.

Auch in Indien zu Zeiten Buddhas war die Einteilung in die Vier Elemente üblich, man bezeichnete sie als mahabhutas, was so viel wie „großer Geist“ bedeutet und darauf abzielt, das im alten Indien vor allem die spirituelle Bedeutung dieser Elemente wichtig war.

Mit dem Erdelement bezeichnet man in diesem System alles Feste, Harte, Statische, also Berge, Knochen, Bäume, Autos. Das Wasserelement bezeichnet alles das, was flüssig ist, was im Fluss ist – vergleiche Heraklit mit seinem panta rhei. Unter dem Luftelement versteht man alles, was sehr beweglich, gasförmig, äußerst flüchtig, frei. Und das Feuerelement ist alles das, was sehr heiß ist, was nach oben strebt, was transformiert oder transformiert wird.

Heute also geht es um das Luftelement. Und wenn ich oben gesagt habe, dass das Luftelement alles ist, was frei ist, fallen mir dabei zwei Assoziationen ein, eine wirtschaftliche und eine buddhistische, kein Wunder, schließlich habe ich früher Wirtschaftswissenschaften studiert und später die Wissenschaft des Dharma, als das, was im Westen als „Buddhismus“ bezeichnet wird. Auch die Wirtschaftswissenschaft assoziiert Luft mit „frei“, denn traditionell teilt die Wirtschaft Güter ein in wirtschaftliche Güter, also solche die einen Preis haben und mit denen man handeln und Profite erwirtschaften kann, und freie Güter, also solche, die kostenlos zur Verfügung stehen. Und als Musterbeispiel für freie Güter wird in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur immer die Luft genannt.

Im Buddhismus ist Freiheit bekanntlich das höchste Ziel. Der Buddha hat von seiner Lehre gesagt, sie habe  nur einen einzigen Geschmack, den von vimukti, von Freiheit. So nimmt es auch kein Wunder, dass der Buddha immer großen Wert auf die Atemachtsamkeit gelegt hat und eines der beiden bekanntesten Lehrreden des ganzen Pali-Kanon das anapanasati-sutta ist, die Lehrrede von der Achtsamkeit beim Ein- und Ausatmen. Der Buddha hat einmal gesagt, es sei diese Meditation gewesen, die ihn schließlich zur Befreiung (da ist das Wort wieder!) geführt hat, zum Nirvana.

Mikt dem Atem verwandte Worte sind Odem, Lebenshauch und prana, alle diese Wort haben eine spirituelle Bedeutung. Bleiben wir zunächst in der jüdisch-christlichen Tradition, dort erscheint der Lebenshauch bei der Erschaffung des Menschen, nämlich im 1. Buch Mose, 2,7 steht: Und Gott der HERR machte den Menschen aus einem Erdenkloß, und blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele. Der Ursprung von allem Leben ist in dieser Tradition natürlich Gott der Herr, aber wichtig erscheint mir die Transformation, die der Odem erwirkt, er transformiert nämlich den Erdenkloß – mithin Materie, Erdelement – zu einem lebendigen Wesen, er inspiriert ihn, was wörtlich heißt: ihm Geist einblasen.

Eine recht ähnliche Stellung – wenn auch ohne den Gottesbezug – finden wir in der altindischen Vorstellung der vorbuddhistischen Zeit, in den Upanisaden. Prana bedeutet im Hindiusimsus Leben, Lebenskraft oder Lebensenergie.

In der Tat gibt es etwas wie Lebenskraft oder Lebensenergie, etwas, das die westliche Wissenschaft bis heute noch nicht entschlüsseln konnte, und diese korreliert bei hochentwickelten Lebewesen, bei Menschen beispielsweise, mit dem Auftreten bzw. Aufhören des Atems, daher macht es sind vom Atem, vom Odem, von der prana als Lebenshauch zu sprechen.

Der Buddha, dem jedes Theoretisieren fremd war - der Begriff Theorie bezog sich ja ursprünglich auf die unmittelbare Gottesschau, die theoria (griech. „Gottesschau“) – hingegen stellten die Atembetrachtung in den Mittelpunkt der Meditationspraxis, er machte also daraus ein praktisches Experimentierfeld. Gewöhnlich wird behauptet, der Buddha habe die Atembetrachtung empfohlen, weil der Atem ein Objekt war, das jederzeit zugänglich war, das man überall dabei hat, auf den man sich zu fast jeder Zeit konzentrieren kann. Diese Erklärung ist zwar auch richtig, greift jedoch meines Erachtens viel zu kurz.

Dem Buddha geht es um Erkenntnis des Wesentlichen. Und da gibt es drei Dinge, die man vollkommen durchschauen muss, um zum Erwachen zu kommen, zur Erleuchtung, zum Nirwana, zur Befreiung. Diese drei Dinge müssen nicht nur intellektuell verstanden werden, dann wären sie eine reine Kopfgeburt, wären nur in unserem Hirn und nicht in unserer Erfahrung, sie müssen uns vielmehr in Fleisch und Blut übergehen, sie müssen inkorporiert werden, sie müssen von jeder Zelle unseres Wesens aufgesogen werden und diese durchdringen. Ein solches effektives Lernen geht nach buddhistischer Auffassung in drei Schritten vor sich, nämlich durch Hören – Reflektieren – Meditieren.

Durch reines Hören – oder Lesen – können wir etwas intellektuell verstehen, dann ist es aber ein Fremdkörper in unserem Hirn. Ungefähr so, wie viele Leute Einsteins berühmte Formel E = mc2 herunterbeten können, jedoch nur die wenigsten sie verstanden haben und fast keiner ihre Bedeutung empfinden kann. Momentan befindet ihr euch auf dieser Stufe. Ihr hört etwas vom Buddha, von Meditation und vom Luftelement, das könnt ihr vielleicht hinterher sogar nacherzählen, aber euer Geist hat sich dadurch noch nicht verändert.

Veränderung im Geist geschieht erst durch den nächsten Schritt: ausführliches Reflektieren im Lichte unterschiedlicher Betrachtungsweisen. Solches Reflektieren kann man allein beginnen, ihr könntet also zum Beispiel heute Abend noch über da Nachdenken, was ich gerade gesagt habe und morgen wieder und nächste Woche usw. Mindestens genauso wichtig ist es aber, mit anderen zu reflektieren, damit wir uns nicht in unsere eigenen Ideen verrennen. Das ist der Grund, warum wir hier nach meinen Vorträgen immer diskutieren und warum es bei den Kursen der buddhistischen Gemeinschaft Triratna immer Gesprächsrunden gibt. Wenn man dieses Reflektieren, dieses weise Erwägen lang und intensiv genug gemacht hat, dann ist es wirklich in unserem Geist angekommen.

Damit hat es uns aber noch nicht wirklich nachhaltig verändert. Das kann erst durch den dritten Schritt erfolgen, die Meditation, die gedankenfreie Schauung der jeweiligen Tatsache nach zuvor erfolgter intellektueller Aufnahme (Hören) und geistiger Verarbeitung (Reflektieren). Und das ist der Grund warum Menschen, die den Pfad des Buddha beschreiten, meditieren. Man nennt das Vipassana-Meditation, Meditation zur Erreichung des Klarblicks, der Erkenntnis, wie die Dinge wirklich sind. Und diese erreichte der Buddha durch den Dreischritt aus Hören, Reflektieren und Meditieren aufgrund der Betrachtung des Atems. Und genau das ist auch der Grund, warum der Buddha Heraklit kritisierte: er hatte etwas gesehen (panta rhei), aber offensichtlich weder hinreichend über die Implikationen reflektiert noch sich durch darauf aufbauende Meditation transformiert und hatte daher nur einen äußerst marginalen Beitrag zur griechischen Geistesentwicklung geliefert.

Bleibt noch zu fragen, was das eigentlich für drei Dinge sind, von denen ich vor einigen Minuten sagte, dass man sie nicht nur intellektuell verstanden haben muss, sondern dass man sie in jede Zelle des Körpers aufgenommen haben muss, um zur vollständigen Befreiung zu kommen, und was das schließlich mit dem Atem zu tun hat.

Nun diese drei Erkenntnisse sind die sog. drei laksanas (Sanskrit: außergewöhnliche Verwirklichungen) sind die drei Wesensmerkmale von allem abhängig Entstandenen, nämlich

Dukkha (das Unvollkommene)
Anicca (Vergänglichkeit)
Anatta (Leerheit von jedem unveränderlichen Kern)
Ich möchte diese Begriffe abschließend kurz am Beispiel des Atems erläutern. Der Atem ist dukkha, d. h. er ist nicht vollkommen, letztendlich unbefriedigend oder auch tatsächlich auch mit dem Unangenehmen verbunden. Das bedeutet nun keineswegs, dass der Atem – oder jedes andere Objekt – durch und durch negativ oder leidvoll wäre.

Nein, der Atem – und auch die anderen Phänomene haben natürlich viele positive Eigenschaften, sind Quell' von Freude und Befriedigung. Das nennt man den assada-Aspekt des Atems – oder den jedes anderen Objektes. Aber daneben gibt es auch den adinava-Aspekt, d. h., einen negativen Aspekt. So angenehm der Atem sein mag, mit jedem einzelnen Atemzug kommen wir unserem letzten Atemzug unweigerlich einen Atemzug näher. Und dann gibt es auch noch die Zeiten, in der die Luft unangenehm ist. Manchmal stinkt es bestialisch, meiner Meinung nach zum Beispiel wenn am Nebentisch geraucht wird. Häufig werden in buddhistischen Einrichtungen Räucherstäbchen entzündet, was für mich eine besondere Belastung ist, denn dies schlägt bei mir – wie bei zahlreichen anderen  Menschen auch – auf den Blutdruck. Beim letzten Sesshin in Essen, bei dem Räucherstäbchen erlaubt waren, war mein Blutdruck nach fünf Stunden bei 240 zu 150 – trotz Medikamenten, und er blieb tagelang deutlich zu hoch. Als ich in der indischen Hauptstadt Delhi war, war die Luftqualität so schlecht, dass ich immer nach 15 Minuten außerhalb des Hotels mit air condition schlimme Kopfschmerzen bekam, ähnlich ging es mir 1990 in Weimar und früher an mindestens 100 Tagen im Jahr in Hanau, nämlich infolge des Kraftwerks Staudinger bei Inversionswetterlage. Als ich noch zur Schule ging war die Luft durch die Hanauer Heraeuswerke mitunter grün, gelb, lila oder rot – und bestimmt war nicht nur die Farbe ein Problem. Als Kind hatte ich Asthma und massiven Heuschnupfen. Manchmal glaubte ich ersticken zu müssen, ich träumte auch vom Ersticken. Und das sind nur einige Elemente, die mir jetzt auf Anhieb zum adinava-Aspekt des Atems einfallen. Also selbst so schöne Dinge wie der Atem haben diesen Aspekt der Unvollkommenheit.

Der Atem ist vergänglich, wir können ihn nicht festhalten. Die schönste, sauberste frische Luft wird mir der Zeit verbrauchter. Und natürlich bedeutet auch die Aussicht auf unseren letzten Atemzug die ultimative Vergänglichkeit nicht nur unseres Atems, sondern auch unserer Person.

Und schließlich ist der Atem, wie alles andere auch, ohne festen Wesenskern. Der Atem ist mein wichtigstes Lebensmittel. Dennoch verschwindet das, was ich im Moment noch für einen Bestandteil meines Körpers halte, die Luft in meinen Lungen, der Sauerstoff in meinem Blut, die Kohlenstoffoxidation in meinen Muskeln, wird im nächsten Moment ausgeatmet, ausgeschieden. Das geht mit allen unseren Bestandteilen so, natürlich auch mit dem Erdelement in uns, mit dem Wasserelement in uns, mit dem Feuerelement in uns, ja, das gilt sogar für unser Bewusstsein.

Aber an keinem dieser Objekte geschieht es so schnell und so gut permanent wahrnehmbar wie beim Atem. Daher ist der Atem das ideale Objekt nicht nur für die Samatha-Mditation, die der Beruhigung dient, sondern auch für die Vipassana-Meditation, die letztendlich zu vollkommener Einsicht führt, dann nämlich, wenn das zuvor Gehörte, das kognitiv Gelernte nicht nur gut und weise reflektiert ist, sondern wenn auch durch tiefe Meditation diese Weisheit aus unserem Hirn in jede Zelle unseres Körpers gelangt ist und letztendlich auch unser Bewusstsein vollkommen durchdrungen hat. Dann sind wir zu höchster Weisheit erwacht, dann haben wir die nächste Evolutionsstufe erreicht, dann sind wir nicht mehr der in Selbstüberschätzung sogenannte homo sapiens sapiens, dann sind wir vielmehr Buddha, eine oder ein Erwachter.


© Copyright 2015 by Horst Gunkel, Gelnhausen
.
Zum Projekt ErDA
.
Zu Meditation am Obermarkt
.
Zurück zu den Artikeln und Vorträgen
.
Zu den Audio-Vorträgen